Meine Geschichte   Leave a comment

Meine Geschichte beginnt Ende der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Eine Frau aus gut katholischem Elternhaus Mitte Zwanzig versucht nach ihren schrecklichen Kriegserlebnissen ihr Leben wieder einigermaßen auf die Reihe zu bringen. Als sie unverheiratet schwanger wird, wirft ihr Vater, wie sein Glaube es ihm gebietet, sie theatralisch aus dem Haus. Er verstößt sie mit den Worten: „Du bist meine Tochter nicht mehr!“ Sie zieht mit ihrem ebenfalls aus dem Krieg schwer traumatisierten Bruder in einer Art Notgemein­schaft zusammen.

Da hinein werde ich nun geboren. Noch bevor ich ein Jahr alt bin, findet meine Mutter die dringend benötigte Arbeitsstelle. Ich komme zu meinen Großeltern in eine andere Stadt. Großvater glaubt, meine sündige Geburt aus mir herausprügeln zu müssen, um aus mir doch noch einen anständigen Menschen zu machen. Widerspruch darf nach seinem Weltbild auf keinen Fall geduldet werden. „Der Dickkopf muss gebrochen werden!“ ist der Leitsatz meiner christ-katholischen Erziehung. Seine größte Schreckens­vorstellung ist die von einem verzogenen Kind.

Anfang der Fünfziger Jahre, der Wohnraum ist noch bewirtschaftet, zieht die Familie wieder zusammen: Vater, Mutter, Sohn und die Tochter mit ihrem kleinen Anhängsel. Es wurde das, was man heute als dysfunktionale Familie bezeichnet.

Es wurde kaum miteinander gesprochen, an gegenseitige Umarmungen oder Herzlichkeit kann ich mich nicht wirklich erinnern. Alle Konflikte wurden mühsam im Zaume gehalten, denn alle hatten Angst, wenn sich die Wut, die Verzweiflung erst einmal eine Bahn brechen würde, gäbe es kein Halten mehr. Das hing wie eine drohende Lawine über unserer Familie, die im Falle ihres Abgangs uns alle unaufhaltsam vernichten würde – und bereits die leiseste Erschütterung hätte sie auslösen können. Die Kommunikation beschränkte sich auf die täglichen Notwendigkeiten: Einkaufen, Haushalt, Verwertung der Gartenfrüchte, Reparaturen und vielleicht eine Neuanschaffung.

So bin ich aufgewachsen: ein verschüchtertes, in sich gekehrtes, stilles Kind. Ich war unfähig, andere Kinder als gleichartige Lebewesen wahrzunehmen, mit ihnen zu spielen oder Kontakt aufzunehmen. Und ich war voller Angst vor sämtlichen Respektspersonen: Pfarrer, Lehrer, Ärzte und all den anderen Erwachsenen.

Als ich älter wurde, fühlte ich mich so grenzenlos alleine und unverstanden. Konnte überhaupt ein Mensch meine Gedanken nachvollziehen? Ich war bestenfalls weit entfernter Zuschauer, dabei sollte die Welt doch irgendwie mein Zuhause sein.

Heute weiß ich, dass ganz viele Menschen ähnliche Erfahrungen haben, ähnlich empfinden. Immer wieder berichten sie von dem Gefühl, hinter einer undurchdring­lichen Wand aus Panzerglas zu leben oder sich fremd wie von einem andern Stern zu fühlen.

Seltsamerweise schien unsere Familie nach außen nicht aufzufallen. Alles schien normal, man war freundlich zu den Nachbarn. Auch das höre ich immer wieder von den Betroffenen: „Wir waren eine angesehene Familie“, oder: „mein Vater war ein beliebter Zahnarzt, immer besorgt um seine Patienten, aber zuhause …“. Wieso kann sich eine dysfunktionale Familie überhaupt unbeachtet in unserer Gesellschaft halten, ohne ständig anzuecken? Das muss doch jemand auffallen?

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Veröffentlicht 11. Januar 2011 von Michael

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