Der lineare Zeitstrahl der Geschichte führt geradewegs aus der grauen Vorzeit in unsere Gegenwart: Steinzeit, Bronzezeit, klassisches Altertum, Mittelalter, Zeit der Aufklärung, eine Abfolge, bis irgendwann die Gegenwart erreicht ist. So hatte ich es gelehrt bekommen.
Was ist mein Bild von Geschichte, die Entwicklung, die ich selbst erlebt habe: die Zeit der 68er? Disziplin und Gehorsam hatten unsere Eltern geradewegs in die Katastrophe geführt. Es folgte die Rebellion gegen unsere Eltern, die Ablehnung ihrer sämtlichen Werte, die Sprengung der alten Grenzen. Zugleich verhinderte aber das Fehlen jeglicher positiver Vorbilder eine grundsätzliche Neuorientierung. Auf erste Überraschungserfolge hin konnten sich deshalb nach einer Besinnungspause alte Strukturen wieder restaurieren.
Parallel dazu erfolgte die Bewusstwerdung durch die Frauenbewegung: in den 1970er und 80er Jahren preschten die Frauen vor unter anderem mit der Vorstellung des zyklischen Geschehens: Tage, Monate, Jahre. Weg vom linearen Männerdenken: „vorbei ist vorbei“! Ich habe das Scheitern erfahren müssen. Das Gleis meiner angestammten Männerwelt führt dem Gelände folgend, am liebsten geradeaus und schnurstracks, bis zum Horizont. Aber auf einmal kommt der Prellbock. Bumms. Aus die Maus. Ende Gelände. Stillstand. Ratlosigkeit. Eine bis dahin für mich unvorstellbare Situation.
Ich musste mich gänzlich neu orientieren. Das alte Muster „wenn was nicht funktioniert, versuche es mit mehr davon, mit größerer Intensität“ führte nicht weiter. Auf „gescheit, gescheiter“ folgte „gescheitert!“. Ich suchte in meiner Männerwelt, auch im „Männerzentrum“, nach Lösungen, las einschlägige Bücher, aber was ich fand befriedigte mich nicht. Zu guter Letzt ein ratloser Blick zu den Frauen: wie machten die das? Ihre Suche nach Selbsterkenntnis. Jenseits des angestammten patriarchal bestimmten Rollenbildes die Entdeckung der Unabhängigkeit der Weiblichkeit: „Wir betrachten gegenseitig unsere Vulva, da wir unsere eigene nicht direkt sehen können“. Das machte mich doch sehr nachdenklich. Vielleicht konnte ich gewisse Dinge an mir auch nicht direkt sehen?
Weiblich geprägtes Denken lehrte mich: auf Abend und Nacht folgt der nächste Morgen, die sich ständig wiederholende Phasen des Mondes, das nächste Frühjahr vertreibt mit jeweils neuen Chancen, mit frischer Blütenpracht den scheidenden Winter. Eine ermutigende Vorstellung, die Erlösung aus der Unabänderlichkeit der Linearität. Du hast in der Regel eine zweite, dritte, vierte Chance. Und darüber hinaus: du selbst magst altern, aber das Leben vererbst du in ständiger Erneuerung an die nachfolgenden Generationen, so wie es seit jeher praktiziert wird. Wenn die Zeit gekommen ist, übergeben die Alten den Hof der Jugend und ziehen ins Altenteil, das Leibgeding, welches ihnen zusteht. So setzt auch die Matriarchin ihre Tochter als stolze Nachfolgerin auf ihren angestammten Platz. Eine Übergabe wie beim Staffellauf.
So wie bei mir. Mittlerweile ist mein Sohn in die Vaterrolle gewachsen, vom Kind und Teenager zum unabhängigen Mann gediehen. Das Wesen der Adoleszenz. Er hat die Verantwortung, die ich in seiner Kindheit hatte, übernommen. Seine drei Töchter sehen mich aus glänzenden, wachen und neugierigen Augen an, wenn ich sie besuchen komme.
Gleichzeitig sind sie ebenfalls in die Jahre gekommen, die Vorreiterinnen der Ideen von Partnerschaftlichkeit und Gleichberechtigung, der Sichtbarwerdung der Weiblichkeit in der gesamten Geschichte der Menschheit: Alice Schwarzer, Heide Göttner-Abendroth, Dagmar von Garnier (Frauengedenklabyrinth), Riane Eisler, … Von der Vordenkerin schon lange zur Matriarchin herangereift. Einige wie Marija Gimbutas sind schon gestorben. Ich frage mich: konnten sie ihr Staffelholz weitergeben im Sinne einer Sichtbarkeit? Wer hat es voller Stolz aufgenommen? Wo sind die Töchter im Geiste, die sie inthronisiert und an ihre Stelle gesetzt haben?
Die Illustrationen wurden erstellt mit dem auf Fraktalen basierenden Open Source Programm „Apophysis 7X für Windows“